In einem Coaching-Seminar hörte ich einmal den britisch-amerikanischen Kursleiter sagen, der unter den Deutschen am stärksten vertretene Glaubenssatz sei „Ich bin nicht gut genug.“ Mit Inbrunst würden sie ihn beim Radical Releasing, einer von ihm zum Bearbeiten von alten Gefühlen und Glaubenssätzen entwickelten Emotionaltechnik, immer lauter und lauter geradezu herausschreien.

Ich persönlich glaube dieses Gefühl von „Egal wie sehr ich mich bemühe, es ist nie genug“ sehr wohl auch bei unseren europäischen Nachbarn und meiner amerikanischen Verwandtschaft zu erkennen. Vielleicht sind wir Deutschen aber tatsächlich die Spezialisten im „uns-schlecht-Fühlen-und-verbessern-Wollen“… Zum einen haben wir den Ruf, Dichter und Denker zu sein – und Dichter und Denker suchen in erster Linie nach Problemen, die sich in Verse und Abhandlungen verwandeln lassen, außer sie sind lösbar und führen zu technischen Errungenschaften wie dem Dieselmotor und dem Automobil.
Zum anderen hat die jüngere Geschichte natürlich ihre Spuren hinterlassen und zu dem Wunsch geführt, nach zwei Weltkriegen und Holocaust in Zukunft der beste aller möglichen Deutschen zu sein. Schluss mit dem schlechten Image auf der Weltbühne, machen wir doch einfach mal alles „richtig“.
Dass man sich am Ende vor lauter Political Correctness in einem Minenfeld wiederfindet, zeigen die jüngsten Ereignisse der Silvesternacht – ein heikles, schwieriges Thema, bei dem man sich am besten vor vorschnellen Verurteilungen und Pauschalisierungen genauso hütet wie vor vermeintlicher, weil für die betroffenen Frauen zum Gegenteil führenden Toleranz und Weltoffenheit. In diesem Blogartikel interessiert mich das Thema „Ich bin nicht gut genug“ jedoch rein auf der individuellen Ebene: in unseren persönlichen Beziehungen und der wohl intimsten Beziehung überhaupt, nämlich der zu uns selbst.

Und wie es sich für das Land der Dichter und Denker gehört, bestimmen wir doch den Gegenstand der Diskussion erst einmal genau. (-: Was bedeutet der Glaubenssatz „Ich bin nicht gut genug“? Hinter diesem auf den ersten Blick so einfachen, kurzen Satz steckt so einiges an Selbstwert-Thematik und Hass gegenüber der eigenen Person. Es geht darum, dem Anspruch nicht zu genügen. Egal, ob man sich für zu dumm, zu intellektuell, zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu cholerisch, zu gutmütig, zu langsam, zu schnell oder was auch immer hält – es reicht eben nie und ist nie gut so, wie es jetzt gerade ist.
Zu Beginn unseres Lebens machen wir als Kinder und Jugendliche die Erfahrung, dass der Anspruch von außen kommt. Jeder einzelne von uns braucht nur in die eigene Vergangenheit blicken und wird zahlreiche Beispiele finden, wo es einem Erwachsenen „nicht gut genug“ war. Es hätte noch ein bisschen besser sein können oder noch ein bisschen schneller…
Und irgendwann sind wir dieses permanente „Ja, das war schon ganz nett, aber nächstes Mal probier doch die 100% zu erreichen!“ so gewöhnt und halten es für so normal und richtig, dass wir diesen Anspruch internalisiert haben – nun sind wir Erwachsenen es selbst, die an den 100%-oder-nichts-Mythos glauben. Nein, ich sage nicht, dass man seinen Job nicht ordentlich und pflichtbewusst machen soll, darum geht es hier nicht.

Und auch auf der emotionalen Ebene hinterlässt unsere Erziehung ihre Spuren. Jeder, der aus einer Suchtfamilie kommt, jeder der Eltern oder Großeltern mit traumatisierenden Kriegserlebnissen oder „einfach so“ schwierige Erziehungsberechtigte hatte, weiß was es bedeutet, wenn man nie so sein kann, dass das Gegenüber zufrieden ist und einen verdammt nochmal endlich! einfach nur lieb hat. Viele von uns sind in einer Atmosphäre der Unberechenbarkeit, der Launenhaftigkeit und der sich permanent ändernden Spielregeln oder unerreichbaren Messlatten aufgewachsen. Wir sind zu Kümmerern, zu sich-selbst-Verleugnern, zu Leistungstieren oder eben zu Rebellen und Totalverweigerern geworden. Nur eben nicht zu uns selbst, so wie wir eigentlich als Babys auf diese Welt gekommen sind.

In der Beziehung zu uns selbst bedeutet der Glaubenssatz „Ich bin nicht gut genug“ also eine permanente Kriegserklärung an unser eigenes Wesen, an unsere angeborenen Eigenheiten und auch an die Charaktereigenschaften, die sich aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen eben genau so herausgebildet haben, wie sie nun einmal sind. Und wie viel Stress es psychisch und physisch nach sich zieht, wenn man sich am laufenden Band selbst bekämpft, muss wohl nicht explizit erklärt werden.
In unseren Beziehungen zu anderen, egal ob privat oder beruflich, führt dieser Stellungskrieg dazu, dass wir nie wirklich bei uns, in unserer Mitte sind. Wir sind in unseren Gedanken, Wünschen und inneren Dialogen immer da, wo wir den Anspruch unseres Gegenübers vermuten. Heißt konkret: Unser Denken und Hoffen kreist permanent darum, wie wir vom anderen wahrgenommen werden möchten. Was wir für den anderen sein möchten. Was wir von ihm als „Belohnung“ für unser gutes Verhalten haben möchten. Oder was wir befürchten als „Strafe“ serviert zu bekommen, weil wir die Messlatte nicht erreicht haben.
Aber wir sind nie in und bei uns. Unsere Energie geht nach außen, um sich bereits nach dem nächsten vermeintlichen Problem umzusehen, alles vorwegzunehmen, was schwierig und unangenehm sein könnte und dem vorzubauen.

So zieht unser Leben an uns vorbei und findet ohne uns statt. Seien Sie ehrlich: Haben Sie sich beispielsweise noch nie dabei ertappt, für eine Person, in die sie verliebt waren, oder für den Chef in einem neuen Job die bestmögliche Version Ihrer selbst sein zu wollen? Und haben dabei übersehen, dass Sie es ja bereits sind? Dass diese Person die Anstrengung und Künstlichkeit Ihres Bemühens wohl eher als unangenehm und stressig empfindet?

Wir machen mit dem ständigen Bemühen, jemand zu sein, der wir nicht sind, viel mehr kaputt als gut. Wenn Sie sich also häufig selbst dabei beobachten, wie Sie versuchen, angeblichen Ansprüchen zu genügen und das brave, liebe Kind zu sein – halten Sie inne. Seien Sie achtsam mit sich selbst und tun Sie Folgendes:

  • Atmen Sie tief in den Bauchraum, werden Sie sich Ihrer Atemzüge bewusst.
  • Vergegenwärtigen Sie sich, dass jede einzelne Zelle Ihres perfekten Körpers jede einzelne Sekunde des Tages alles tut, um Sie am Leben zu erhalten und die Körperfunktionen auf dem höchstmöglichen Level zu gewährleisten.
  • Nehmen Sie wahr, was es in Ihrem Hirn denkt, z.B. „Wenn ich mich jetzt falsch verhalte, ruft er nie wieder an.“ Oder „Wenn ich inkompetent rüberkomme, kann ich mir die Gehaltsverhandlung nächste Woche in die Haare schmieren.“ Und dann werden Sie sich dessen bewusst, dass das Ihre eigenen Ängste sind, nicht die Realität.
  • Erlauben Sie der Angst da zu sein (sie hat einen konkreten Ursprung und eine Daseinsberechtigung). Und dann wenden Sie Ihre Gedanken bewusst und absichtlich wieder dahin, wo es sich gut anfühlt: Wie der Atem den Brust- und Bauchraum sich heben und senken lässt. Wie warm Ihre Hände sind. Wie angenehm es ist, sanft über Ihren Oberschenkel zu streichen.
  • Halten Sie sich vor Augen, dass jeder Mensch ein Sammelsurium an „guten“ und „schlechten“ Eigenschaften ist – also auch Sie. Warum sollten Sie weniger Sie selbst sein dürfen als die anderen Menschen um Sie herum? Warum ist Ihr Sammelsurium nicht gut genug im Vergleich zu den anderen?
  • Geben Sie sich die Erlaubnis, Sie selbst zu sein, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger – und beobachten Sie die Entspannung und Erleichterung.

Sie sind genau richtig, so wie Sie sind. Fangen Sie lieber an, wirklich Sie selbst zu sein als sich permanent zu verbiegen und so zu tun, als hätten Sie keine wütenden, nörgelnden, selbstmitleidigen oder was auch immer Seiten. Es bringt ohnehin nichts – alle um Sie herum spüren, wer Sie wirklich sind. Also konzentrieren Sie sich auf die Geschenke, die Sie mit auf diese Welt gebracht haben. Die Menschen, die WIRKLICH in Ihr Leben gehören, werden sie dankbar annehmen.