Es ist höchste Zeit, dass wir uns vom althergebrachten Konzept von Heilung verabschieden. Dieses Konzept steht nämlich der tatsächlichen, tiefgreifenden Heilung sogar im Weg. Warum? Weil es sich konzentriert auf das Verschwinden von Symptomen, die uns unangenehm sind und von denen wir uns eingeschränkt fühlen. Ganz wie wir es in der herkömmlichen Medizin und Psychiatrie gelernt haben, möchten wir die Symptome dann „wegmachen“ oder „weghaben“. Robert Betz hat dies zutreffend als die „Wegmachgesellschaft“ bezeichnet.

Wir möchten nicht wissen, warum wir in diesem Jahr schon das dritte Mal eine Mandelentzündung haben oder woher die Verdauungsprobleme kommen. Wir möchten, dass uns der Arzt eine Pille gibt und wir nach maximal zwei Tagen wieder fit und somit glücklich sind. Und die leise, aber deutliche Stimme in uns verschwindet, die uns sagt, dass wir einfach mal Ruhe brauchen oder ein klärendes Gespräch oder mehr Spaziergänge am Strand.

Das althochdeutsche Wort heil bedeutet „gesund, ganz, vollkommen, unversehrt, errettet, erlöst“ – und deutet somit auf genau das, um was es bei Heilung aber wirklich geht. Es geht um alle Ebenen des Seins, auch die seelisch-emotionale und sogar spirituelle.

Nun, die allumfassende Dimension der Heilung ist natürlich auch in unserer hochtechnisierten, auf Effizienz und Leistungsfähigkeit getrimmten Welt hier und da wiederentdeckt worden. Sei es z.B. durch die Homöopathie oder den Einfluss der Traditionellen Chinesischen Medizin, immer mehr Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten damit beschäftigt, dass „heil sein“ und Gesundheit mehr sind als nur die Abwesenheit von Krankheit. Schlagwörter wie „innere Balance“, „Wohlbefinden“, „Wellness“ oder „Einklang“ usw. sind in aller Munde.

Haben wir uns aber tatsächlich komplett vom schulmedizinischen Konzept verabschiedet? Oder hoffen wir nicht vielmehr immer noch, dass wir mittels ein bisschen Familienaufstellung hier, ein wenig Yoga dort, täglichem Salat und Antioxidanzien endlich das Ziel erreichen, das wir uns so sehnlichst erhoffen: das Ende aller Probleme, aller Zipperlein, aller Zweifel?

Soll heißen: Eigentlich sind wir, wenn wir mal ganz ehrlich mit uns selbst sind (mich natürlich eingeschlossen!), nach wie vor im alten Fahrwasser von Ursache und direkter Wirkung. Wir tun diese gesunden Dinge meistens erst dann, wenn wir schon krank sind oder fühlen, dass wir so nicht mehr lange weiter machen können. Wir tun dies nicht, weil wir uns selbst lieben, achten und ehren und den menschlichen Körper und seine Gefühle und Gedanken als heiligen Tempel betrachten. Sondern wir tun es, weil wir die Auswirkung, den Effekt haben wollen; weil wir die Krankheit oder das Unwohlsein weghaben wollen.

Dies hat auch damit zu tun, dass wir heutzutage nicht mehr bereit sind, den Dingen die Zeit zu geben, die sie nun einmal brauchen. Heilung muss jetzt, sofort und berechenbar stattfinden, sonst ist es keine Heilung.

Das, was uns körperlich oder seelisch belastet und daran hindert, glücklich wir selbst zu sein, ist aber andererseits nicht innerhalb weniger Wochen oder Monate entstanden. Für einen Bandscheibenvorfall müssen wir uns bereits jahrelang zu wenig und falsch bewegt haben; und eine Depression lässt sich nicht nur durch eine Störung des Neurotransmitterhaushalts im Hirn erklären, sondern hat in den allermeisten Fällen auch handfeste und langwährende Ursachen in den sozialen Beziehungen.

Ja, natürlich gibt es Blitz- und Wunderheilungen. Aber bei wie vielen dieser Menschen schon eine sehr lange Vorarbeit vorhanden war oder wie bereit jemand tatsächlich war, die Krankheit oder seelische Problematik vollständig gehen zu lassen – das wird in diesem Zusammenhang meist nicht untersucht. Zwei Menschen können exakt dieselbe Behandlung bekommen aus exakt demselben Grund, und trotzdem muss nicht dasselbe dabei rauskommen. Der eine wird sofort das „los“, weswegen er kam, beim anderen sieht es so aus, als sei nichts passiert.

In letzterem Fall wird üblicherweise der Methode oder dem Anwender die Schuld gegeben, anstatt ehrlich bei sich selbst nachzusehen, welchen Sekundärgewinn man denn mit dieser Krankheit oder sonstigen Störung hat. Ein Beispiel für einen Sekundärgewinn wäre etwa, wenn jemand aufgrund seiner Erkrankung von den anderen Familienmitgliedern Aufmerksamkeit und Zuwendung erfährt oder nach einem Unfall Zahlungen wegen der Langzeitschädigungen bekommt. Oder wenn man sich wegen der Krankheit/Einschränkung nicht mit Dingen auseinandersetzen muss, vor denen man Angst hat.

Bei einer solchen Konstellation gibt es in uns einen Teil, der sich nichts sehnlicher wünscht als die vollständige Heilung – und eben einen anderen, der vor nichts mehr Angst hat als vor dieser Heilung. Leider ist dieser ängstliche Teil in uns nicht der mit der lauten Stimme, sondern der versteckte, leise, den wir selbst meistens nicht kennen.

Was nicht heißen soll, dass es auf dem „Heilungsmarkt“ nicht wirklich schwarze Schafe gibt, die sich ausschließlich für Geld, aber nicht für das Wohl der von ihnen gemolkenen Kühe interessieren. Und es soll auch nicht heißen, dass jede Methode für jeden geeignet ist. Dass man seinem gesunden Menschenverstand und Bauchgefühl vertrauen sollte, versteht sich von selbst. Wir sind alle in permanenter Entwicklung und somit kann eine Sache, die mir vor zwei Jahren gut geholfen hat, heute schon völlig ungeeignet sein.

Es geht einfach darum, dass jede Form von Behandlung, egal ob schulmedizinisch oder nicht, automatisch dazu führt, dass wir nach einer Ursache oder einem Verursacher suchen. Wir haben dann die Wahl, ob wir bei uns selbst nachsehen oder im Außen. Und wenn wir ehrlich sind, werden wir uns eingestehen, dass die Ursachen in uns selbst liegen. Selbst wenn sie eine Reaktion auf äußere Umstände sind, dann findet diese Reaktion immer noch in uns selbst statt und durch uns selbst, durch die Art und Weise, wie wir mit der Welt und den Geschehnissen umgehen aufgrund unserer tiefsten Überzeugungen und Glaubenssätze.

Der nächste logische Schritt ist dann, dass wir uns Zeit geben und uns und den Dingen erlauben, sich in ihrem ganz eigenen Tempo zu verändern. Heilung ist nicht berechenbar, sie wird nicht einfach mit einem konkreten Datum ausgeliefert wie ein Päckchen von UPS. Sie ist ein Prozess, ein stete Weiterentwicklung, ein „Schritt für Schritt gehen“.

Und wer kann schon beurteilen, ob nicht doch ganz viel passiert, auch wenn sich nichts tut in genau dem Bereich, in dem wir uns das wünschen? Oft muss sich erst im Bereich ABC etwas ändern, bevor es dann auch irgendwann „klick!“ machen kann im Bereich XYZ. Und das kann eben einfach dauern. Bei manchen geht es schnell, bei manchen zieht es sich über Jahre hin – und nichts davon ist besser oder schlechter oder sagt auch nur das Geringste darüber aus, wie bewusst eine Person ist oder wie „erleuchtet“. Sondern es sagt einfach nur etwas darüber aus, ob schon alle Schritte gegangen sind oder eben noch nicht.

Es ist höchste Zeit, dass wir aufhören, immerzu alles und jeden in Kategorien zu stecken. Kategorien wie „Das muss gut sein, weil es schnell wirkt“ oder „Ich muss irgendetwas falsch machen, weil ich nicht weiter komme“.

Heilung unterliegt eigenen Gesetzen jenseits von Raum und Zeit und jenseits von Ursache und Wirkung. Heilung im Sinne von „heil sein“ wie es das althochdeutsche Wort beinhaltet schreibt ihre eigenen Gesetze. Und die haben mit (Selbst-)Liebe und Vertrauen zu tun, nicht mit Effizienz und Terminkalender.

Eines dürfen wir dabei auch nicht vergessen: Positives Denken oder sich „ein Thema ansehen“ bedeuten noch lange nicht, dass der tief darunter liegende Glaubenssatz tatsächlich wie auf Knopfdruck verschwindet. Viele von uns haben vor lauter spirituellem Perfektionismus, vor lauter „Ich muss mich verbessern, ich bin noch nicht 24 Stunden am Tag sieben Tage die Woche erwacht und präsent, ich übernehme immer noch nicht überall die Verantwortung für mein Handeln“ etc. vollkommen verdrängt, wer und was wir sind: Menschen. Menschen mit einem Körper, in dem alle alten Erfahrungen bis ins Zellgedächtnis abgespeichert sind und der dementsprechend mit chemischen Prozessen auf bestimmte Situationen reagiert, ohne dass der Verstand das Geringste dagegen tun kann. Da übernehmen die Botenstoffe und Hormone einfach das Ruder.

Angst ist stärker als dein Wissen um ihre fehlende Logik. Wenn du als Kind beispielsweise immer und immer wieder für eine bestimmte Sache bestraft wurdest, körperlich oder „nur“ mit Schweigen und eisigen Blicken, dann hat sich dein Schamgefühl, dein Angststechen im Bauch, dein inneres Weggehen aus der Situation so tief eingeprägt, dass es einer langen Zeit des Bewusstwerdens, des Übens und des dir selbst liebevoll Begegnens bedarf, um diesen Reflex durch etwas Neues zu ersetzen.

Und vielleicht gelingt es dir in einem bestimmten Punkt auch nie. Macht dich das dann zu einem minderwertigen Menschen? Zu einer Null im Fach „Wie ich lerne, alle Gesetze des Universums genauestens umzusetzen (und nebenbei auch noch ein echt cooler Hund in der spirituellen Szene werde)“?

Nein, es macht dich zu einem Menschen. Dieser Punkt kann gar nicht oft genug betont werden. Es geht nicht darum, deine Gefühle und die mit ihnen verknüpften Muster zu überwinden, es geht darum, sie zu fühlen. Sie zuzulassen. Sie zu lieben als einen Teil deiner menschlichen Erfahrung – wenn sich in dir jetzt gerade alles zusammenzieht oder du aufstöhnst und mit den Augen rollst, dann ist das wahrscheinlich ein Indiz dafür, dass hier tatsächlich einer deiner wunden Punkte ist. Ich wage sogar eine Wette einzugehen: Es ist wohl der wichtigste von allen.

Es ist also höchste Zeit, dass wir aufhören, der Verbesserungsindustrie Glauben zu schenken, die uns beständig einreden will, dass wir ununterbrochen an uns „arbeiten“ müssen, um dann irgendwann in der Zukunft jenen Zustand der Perfektion erreicht zu   haben, der es uns dann endlich erlaubt, mit uns zufrieden zu sein. Das führt nur zu einer Endlosschleife, aus der wir nie wieder heraus kommen, weil wir bis in alle Unendlichkeit „Themen“ finden können, frühere Leben bearbeiten, nach Fehlern im System suchen usw. Letztendlich bedeutet diese Sichtweise aber nichts anderes, als dass wir uns Glück und Gelassenheit im Leben erst hart erarbeiten müssen. Dass wir etwas leisten müssen, um dann belohnt zu werden mit Erleuchtung, Meisterschaft oder was auch immer sonst am Ende des Regenbogens angeblich wartet.

Das genaue Gegenteil ist aber der Fall: Wir müssen uns zuliebe endlich aufhören, nach einer verbesserten „Version 2.0“ von uns selbst zu suchen. Entweder wir sind tatsächlich „Lichtwesen“ im Sinne der Quantenphysik, sind also genau genommen reine Energie und strahlen tatsächlich Photonen und somit Licht ab – oder wir sind es eben nicht.

Wenn wir es sind, dann gibt es keine „Fehler“ und „falschen Eigenschaften“, keine Probleme, die wir lösen und „reparieren“ müssen. Dann ist alles, was existiert, genau richtig, so wie es ist. Und somit auch wir. Dann sind wir bereits das, nach dem wir so lange gesucht haben: ein Fleisch gewordener Ausdruck einer übergeordneten Intelligenz und Energie. Egal, wie viel alte Wut oder Angst dann noch in uns stecken oder ob wir krank sind, gleichzeitig sind wir reine Energie, die Teil der gesamten Energie des Universums ist (wir lassen jetzt mal der Einfachheit halber Paralleluniversen weg).

Die einzige Entscheidung, die du dann täglich treffen musst, ist: Was tut mir gut und was nicht? Welches Essen stärkt meine Energie und welches schadet mir? Welche Beziehungen erfüllen mich mit Freude und Liebe und welche nicht? Welche meiner Verhaltensweisen behindert mich so sehr, dass ich nicht frei und glücklich leben kann? Wie kann ich daran etwas ändern?

Und wenn du nichts ändern kannst, weil manche emotionalen Muster und Reaktionsweisen eben schon seit Jahrzehnten bestehen und du zumindest im Moment keinen Weg rausfindest aus dem Labyrinth, dann ist es umso wichtiger, dich nicht selbst gedanklich dafür zu bestrafen. All das gehört zu dir, ist ein Teil von dir und hat somit eine Existenzberechtigung und eine Funktion. Es deutet auf etwas, das wieder ins Gleichgewicht gebracht werden möchte. Es weist dich auf alte Wunden hin, die du nie heilen konntest, weil du damals nicht wusstest wie.

Also: Schließe deine angeblichen „Fehler“, „Krankheiten“ und sonstigen Macken herzlich in die Arme, sie und alle deine anderen Anteile, ihr seid ein vollkommenes Ganzes. Es ist nicht nötig, auf manche Teile das Etikett „gesund“ und auf das andere das Etikett „krank“ zu kleben. Es reicht völlig, dir dessen bewusst zu werden, dass du reine Energie im quantenphysischen Sinne bist und somit vollkommen. Und dann gehst du langsam, Schritt für Schritt die Bereiche deines Lebens an, in denen du noch mehr Ausgeglichenheit, Liebe und Zufriedenheit haben möchtest.

Je mehr Liebe, Geduld und Verständnis du dir selbst entgegen bringst, desto besser sind die Wachstumsbedingungen für Heilung. Dann entsteht Heilung im ursprünglichen Sinn, nämlich auf allen Ebenen deines Seins, nicht nur isoliert z.B. auf der körperlichen. Dann dürfen auch deine Seele und dein Geist in ihrem ganz eigenen Tempo heilen, egal wie viele Schritte und wie viele verschiedene Methoden es dann vielleicht dafür braucht.

Alles kommt zur rechten Zeit zu dir und eines baut auf dem anderen auf. Lehn dich zurück, genieße die Fahrt und sei versichert: Du darfst auch jetzt schon, so wie du in diesem Augenblick bist, glücklich sein und dich selbst so richtig gut finden!